Zum Zustand der deutschen Nationalmannschaft – ein Text aus dem November 2020, kurz nachdem die Nationalelf mit 0:6 gegen Spanien verlor. Personelle Konsequenzen gab es zwischenzeitlich - eine positive Entwicklung in Richtung Fannähe oder gar Fankultur sucht man jedoch auch knapp drei Jahre später völlig vergeblich...
Dass wir der deutschen Nationalmannschaft aus vielschichtigen Gründen kritisch gegenüberstehen, dürfte jeder und jedem, die/der KURVENHELDEN schon eine Weile folgt, nicht entgangen sein. Dabei würden wir eigentlich gerne das Gegenteil behaupten. Eigentlich sehnen wir uns doch zurück nach diesen Tagen, an denen wir uns als Kinder den ganzen Tag lang auf das abendliche Länderspiel freuten. Auch wenn sie manches Mal so spät angepfiffen wurden, dass wir, wenn überhaupt, nur die erste Halbzeit sehen durften, weil es am nächsten Morgen ja schon wieder früh in die Schule gehen sollte.
Am Morgen nach derlei Spielen fiel das Aufstehen irgendwie leichter als sonst. Wir waren getrieben von der Neugier, wie das gestrige Spiel wohl ausgegangen sein mag. Selbst dann, wenn der Gegner „nur“ Luxemburg oder Liechtenstein hieß. Entweder befragten wir total aufgeregt unsere Eltern oder wir schlugen eilig die auf dem Frühstückstisch bereitliegende Tageszeitung auf.
So fühlten wir als Kinder.
Doch irgendwie ging auf dieser langen Reise ins Hier und Jetzt so viel verloren. Warum fühlen wir nichts mehr, wenn ein Länderspiel ansteht? Warum nehmen wir Pleiten wie das historische 0:6 gegen Spanien nur noch mit Häme und Spott zur Kenntnis, wenn uns derlei Ereignisse als Kinder doch im Mark erschüttert und tagelang beschäftigt hätten? Die Gründe dafür sind komplex und jede und jeder fände darauf sicherlich auch individuelle Antworten.
In den folgenden Zeilen wollen wir auf die Suche nach Antworten gehen und beginnen – bitte nicht erschrecken – im Jahr 1997. Beim EM-Qualifikationsspiel gegen Portugal (1:1) im Berliner Olympiastadion wurden tausende Fans mit Trikots ausgestattet. Vorne drauf prangte die Bewerbungsabsicht des DFB auf die Austragung der WM 2006. Im Jahr 2000 setzte sich Deutschland schließlich mit 12:11 Stimmen gegen Mitbewerber Südafrika, das letztlich die darauf folgende WM 2010 bekam, durch.
Der Zuschlag für die Weltmeisterschaft 2006 hatte für regelmäßige Stadiongänger in Deutschland bundesweit erhebliche Auswirkungen. Es wurden Sicherheitskonzepte erarbeitet und ein ums andere Mal für den Ernstfall erprobt. Stilmittel wie Pyrotechnik, die seit Jahrzehnten weltweit nahezu selbstverständlicher Bestandteil der Fankultur waren, wurden durch mediale Unterstützung kriminalisiert und deren Nutzung skandalisiert. Sprach man früher noch von „südländischer Atmosphäre“, wenn bengalische Fackeln die Kurven erhellten und beispielsweise den Nachthimmel am Betzenberg in Kaiserslautern erleuchteten, war es mit diesen positiv konnotierten Metaphern schlagartig vorbei.
Eine regelrechte „Säuberung“ der Stadien bestimmte die Agenda der DFB-Funktionäre. Stehplätze wurden auf ein Minimum reduziert, altehrwürdige charakteristische Stadien, deren Namen stets an lokale Bezüge geknüpft waren, wichen modernen 08/15-Arenen, die man heutzutage höchstens anhand der Anordnung der Sitzschalen auseinanderhalten kann und deren Namen sich stets an dem zahlungswilligsten Sponsor orientieren.
Die Regularien für einen Stadionbesuch wurden drastisch erweitert, sodass es für Fans immer schwerer wurde, nicht mit ihnen in Konflikt zu geraten. Es hagelte allenthalben Stadionverbote, die per großzügigem Gießkannenprinzip verteilt, jedoch ohne jede Anhörung oder gar Verurteilung ausgesprochen wurden. Es reichte aus, in der Nähe einer Gruppe zu stehen, aus der eine einzelne Person heraus eine Ordnungswidrigkeit beging. Beispiel: das Anbringen eines Aufklebers an einer Plexiglasscheibe. Gilt im Justizsystem der Bundesrepublik die Unschuldsvermutung und bedarf es einer rechtssicheren Verurteilung durch ein ordentliches Gericht, fühlt sich der DFB hieran bis heute nicht gebunden.
Hinzu kommt die immer weiter fortschreitende, doch bereits seit den 1980er Jahren eingesetzte Eventisierung des Fußballs, bei der das Spiel an sich in den Hintergrund rückt. Vor über 30 Jahren sollte auf diese Weise dem niedrigen Zuschauerschnitt entgegengewirkt werden, was heutzutage sicherlich nicht mehr das Problem der Profiligen sein dürfte. Vereine, allen voran jedoch der DFB selbst, organisieren Vorprogramme und Halbzeitshows, scheinen sich am amerikanischen Vorbild zu orientieren. Das alles gipfelte in dem Auftritt von Helene Fischer in der Halbzeit des DFB-Pokalfinals 2017. Immerhin: weite Teile des Berliner Olympiastadions quittierten diese Veranstaltung mit einem gellenden Pfeifkonzert, denn: Das hat mit Fuß, das hat mit Ball, das hat mit Fußball nichts zu tun!
Zu schlechter Letzt sind da noch unzählige Zwistigkeiten zwischen aktiven Fans und dem DFB. Schlagworte wie Zuschauerteilausschluss (Kollektivstrafen), die Zerstückelung von Spieltagen ohne jede Rücksicht auf auswärtsfahrende Fans, sowie die ständige Verstrickung von hohen DFB-Funktionären in diverse Korruptionsfälle bei gleichzeitigem Erheben des moralischen Zeigefingers gegenüber den Fans in den Kurven. Zugegeben: Auch manch Verein fordert mit Blick auf notwendige Regenerationsphasen nach Europapokalspielen eben jene Zerstückelung, sodass es hier einer Differenzierung von kommerziellen und sportlichen Gesichtspunkten bedarf.
Doch zurück zum DFB-Team. All diese Entwicklungen in den Stadien gingen an der Nationalmannschaft selbstverständlich alles andere als vorbei. Die Nationalelf vereint in ihrem (Zitat Oliver Bierhoff) „Premiumprodukt“ alles, was aktive Fans am modernen Fußball seit Jahren kritisieren. All die Entwicklungen, all die Windmühlen der Kommerzialisierung und Eventisierung, gegen die sich Fans in nahezu allen Stadien dieses Landes stemmen, brechen sich im Dunstkreis der Nationalmannschaft widerstandslos Bahn:
Keine Stehplätze (okay, ist Vorgabe der UEFA), und somit keine Stimmungszentren bei Heimspielen, Ticketpreise jenseits von Gut und Böse (ab 40 Euro aufwärts), ein „Fanclub“, der „powered by Coca-Cola“ ist und peinliche „Choreographien“ mithilfe einer Agentur erstellen lässt. Der totale Verlust der Fannähe und zur viel zitierten Basis spielt auch hier eine Rolle. Dass „Die Mannschaft“ selbst bei kleinen Entfernungen von A nach B geflogen wird, sich oftmals nahezu komplett abschottet und von vorne bis hinten betütschert wird, liegt sicherlich auch in dem engen Terminplan von FIFA und UEFA begründet, der den Spielern quasi keinerlei Regeneration mehr erlaubt.
Ihr seht also – der Fisch stinkt wie immer vom Kopf!
Apropos Kopf – der Kopf der Nationalelf ist seit 2004, also seit über 16 Jahren, Joachim Löw. Zunächst in zweiter Reihe hinter Jürgen Klinsmann agierend, übernahm er nach der WM 2006 das Zepter als Chefcoach und gab es bis zum heutigen Tage nicht wieder her. Grundsätzlich spricht das ja erstmal für seine Leistung. 2008 erreichte er das EM-Finale, wurde 2010 WM-Dritter. 2012 das Aus im Halbfinale gegen Italien, 2014 schließlich der WM-Titel in Rio.
Im Nachhinein möchte man ihm Zurufen: Jogi, man soll doch aufhören, wenn‘s am schönsten ist! Was soll jetzt noch kommen? Und ja, viele verstanden den Weltmeister-Kapitän Philipp Lahm seinerzeit nicht, im Alter von gerade mal 30 Jahren abzutreten. Lahm nahm sich eben jenes Sprichwort zu Herzen und trat auf dem Olymp ab. Jogi hingegen wollte mehr. Er wollte den EM-Titel 2016 holen, schied jedoch im Halbfinale verdient gegen Gastgeber Frankreich aus. 2018 wollte er den WM-Titel in Russland verteidigen und erlitt das selbe Schicksal, wie die vorigen amtierenden Weltmeister Frankreich im Jahr 2002, Italien im Jahr 2010 und Spanien im Jahr 2014: Vorrundenaus!
Doch seien wir mal ehrlich. Wer den zu jener Zeit einzigen Qualitätsspieler in Sachen Eins-gegen-Eins trotz einwandfreier Fitness und aus wenig triftigen Gründen zuhause lässt (Leroy Sané wurde 2018 zum wertvollsten jungen Spieler der Premier League vor Harry Kane, Marcus Rashford und Raheem Sterling gewählt) und stattdessen den damaligen Schalker „Achter“ Leon Goretzka als Außenstürmer aufbietet, kann nur scheitern. Löw schien den Ballbesitzfußball auf die Spitze zu treiben, den Ball ins Tor tragen zu wollen. Das Ende vom Lied: Der Weltfußball hat sich auf Deutschland eingestellt und es mit eiskalter Brutalität ausgekontert. 0:1 gegen Mexiko, 0:2 gegen Südkorea, ein Last-Minute-Sieg gegen Schweden dank Toni Kroos – that‘s it, danke tschüß und auf Wiedersehen! Kurz vor der WM 2018 verlängerte der damalige DFB-Präsident Reinhard Grindel (wurde 2019 wegen Korruption aus dem Amt gejagt) den Vertrag mit Löw vorzeitig, statt zunächst den Ausgang des Turniers abzuwarten.
Und so ging es mit Jogi in die nächste Runde, der auf einer Pressekonferenz eine halbgare Analyse abhielt, das Thema Ballbesitzspiel zu Grabe trug, jedoch keinerlei personeller Konsequenzen zog. Erst nach der ersten Ausgabe der Nations League, in der Deutschland gegen die Niederlande und Frankreich als Gruppenletzter sportlich abstieg, formell jedoch die Klasse hielt (was ist das für ein Schmu?) kam Löw auf die Idee, Spieler auszusortieren. Mats Hummels, Jerome Boateng und Thomas Müller – seinerzeit allesamt beim FC Bayern in Lohn und Brot stehend, wurden unwiderruflich aus der Nationalmannschaft geschmissen.
Seitdem ist viel Wasser die Elbe hinuntergeflossen und die Mannschaft hat das eine oder andere Spiel absolviert. Boateng auszuboten war damals irgendwo nachzuvollziehen. Er hatte alles gewonnen, seinen Stammplatz bei Bayern jedoch verloren. Genau wie Hummels wirkte er insgesamt etwas zu langsam, um dem schnellen Umschaltspiel der Gegner noch Stand halten zu können. Obendrein machten beide in einigen Länderspielen vor ihrer Ausbotung auch keine sonderlich glückliche Figur. Und auch Thomas Müller kriselte in der Nationalmannschaft. Schoss er bei der WM 2010 und 2014 noch jeweils fünf Tore, steuerte er bei der EM 2016 und der WM 2018 schon keinen einzigen Treffer mehr bei und passte zwischen den Hochgeschwindigkeitsspielern Timo Werner, Leroy Sané und Serge Gnabry aufgrund fehlender Schnelligkeit nicht mehr richtig ins System.
So weit so nachvollziehbar. Viele hatten ohnehin einen Neuanfang gefordert, das wütende Volk forderte rollende Köpfe. Doch die unwiderrufliche Nichtberücksichtigung jener drei Personalien, die 2014 allesamt zum Stammpersonal der Weltmeistermannschaft zählten und hochverdiente Nationalspieler waren, stellte das Fußballvolk alles andere als ruhig. Nahezu jede Woche stellten die Medien die selbe Frage: „Muss man nicht nochmal über die drei nachdenken?“ Und mit jedem Gegentor, das „Die Mannschaft“ fing, mit jeder guten Leistung die die drei in der Bundesliga oder Champions League ablieferten, wuchs der Druck von Medien und Experten. Und immer wieder negierte Löw die Chancen auf eine Rückkehr, forderte Vertrauen für die „junge“ Mannschaft.
Junge Mannschaft? Wir wollen nicht außer Acht lassen, dass Antonio Rüdiger mittlerweile auch seine 27 Lenze zählt. Dass Matthias Ginter (26) ebenfalls keine 18 mehr ist. Dass Philipp Max gerade mit 27 sein Länderspieldebüt feierte. Die Mannschaft, die in Spanien mit 0:6 baden ging, hatte einen Altersdurchschnitt von knapp 27 Jahren! Zum Vergleich: Als Mats Hummels Deutschland gegen Frankreich ins WM-Halbfinale köpfte, war er erst schlanke 26 Jahre alt! Wie viel Zeit sollen Rüdiger und Co also noch bekommen? Wie viel Vertrauen soll diese Abwehr noch verspielen? Antonio Rüdiger hat in der aktuellen Saison noch keine einzige Minute für Chelsea auf dem Platz gestanden. Julian Draxler ist bei Paris St. Germain bestenfalls der 15. Mann und soll bei der Nationalelf (Zitat Draxler) „Spielpraxis sammeln“?
Müsste es nicht eigentlich anders herum sein? Müsste Draxler nicht Stammspieler bei seinem Klub sein, der ja nicht unbedingt PSG sein muss – man könnte ja auch wechseln und auf ein Milliönchen verzichten, dafür aber Spielpraxis sammeln und zu einer seriösen Alternative im DFB-Kader werden? Das selbe gilt für Rüdiger. Gegen Spanien kam Jonathan Tah, der selbst bei Bayer Leverkusen kein Stammspieler ist, für Niklas Süle in die Partie. Und in München sitzt mit Jerome Boateng ein Innenverteidiger auf der Couch, der mit Bayern 2020 (als Stammspieler!) das Triple aus Meisterschaft, Pokal und Champions League gewonnen hat, weil er unter Neu-Trainer Hansi Flick zu alter Form fand. In Dortmund findet man mit Mats Hummels einen weiteren Innenverteidiger, der seine beste Saison seit langem spielt, beim BVB Stammspieler und Leader ist, zudem regelmäßig in der Königsklasse performt!
Und auch wenn Deutschland offensiv mit Spielern von riesiger individueller Klasse bestückt ist, sitzt in München mit Thomas Müller ein „Zehner“, der in der vergangenen Bundesliga-Saison mal eben den Assist-Rekord von 21 Torvorlagen aufgestellt hat und als absoluter, unangefochtener Lautsprecher und Pressing-Auslöser in Hansi Flicks FCB-Elf mehr als nur gesetzt ist. Das renommierte englische Magazin „FourFourTwo" kürzlich die zehn besten Spielmacher der Welt gekürt. Thomas Müller landet ganz oben im Ranking.
Die sportliche Leitung des DFB hat es sich bequem gemacht. Löw scheint zu stolz, seine Entscheidung zu revidieren. Und Oliver Bierhoff trägt sie mit, stärkt Löw aus jahrelanger Verbundenheit (auch er ist seit 2004 dabei) öffentlich den Rücken. Dass Oliver Bierhoff seine Meinung Löw gegenüber ändert – unwahrscheinlich. Heißt: Eine Entlassung von Jogi Löw, der unfassbar viel für den deutschen Fußball geleistet und große Erfolge eingefahren hat, funktioniert nur, wenn die Verantwortlichen Bierhoff gleich mit vor die Tür setzen.
Wir sagen: Die Nationalelf braucht dringend einen neuen Impuls! Die Nationalelf braucht einen Coach, der genau das macht, um dieser Berufsbezeichnung gerecht zu werden: Coachen – statt regungs- und ideenlos auf dem Stuhl zu sitzen, während die Mannschaft von „La Furia Roja“ seziert wird. Einen, der eigene Entscheidungen revidiert und der die Wahrung des eigenen Gesichts nicht über den sportlichen Erfolg stellt! Neue Besen kehren in der Regel gut – und für diesen Scherbenhaufen lohnt sich jede Neuanschaffung!
Wir fordern eine 180-Grad-Wende des DFB in Sachen Attraktivität der Nationalmannschaft! Dass man Länderspiele unter der Woche „nur“ der Kinder wegen nicht um 18 Uhr anpfeifen kann, weil sonst das arbeitende Volk keine Chance auf den Stadionbesuch hat, ist doch klar. Da machen wir uns nichts vor. Aber Schneider, bleib doch mal bei deinen Leisten und konzentriere dich auf Fußball! Und zwar hauptsächlich! Schafft endlich diesen lächerlichen Coca-Cola-Fanclub ab und tretet mit den echten Fans aus den Kurven in Kontakt. Und zwar auf Augenhöhe! Haltet eure Versprechungen ein, die ihr den Fans in jahrelangen, kräftezehrenden Dialogen gemacht habt, statt sie ständig mit dem Arsch wieder einzureißen! Macht den Besuch der Nationalelf auch daheim wieder attraktiver, indem ihr den supportwilligen Fans mit ihrer unglaublich großen Expertise freie Hand lasst, statt Event-Agenturen in ihnen völlig fremden Fankultur-Themen herumgurken zu lassen!
Und wisst ihr was? Wenn in den Stadien mal wieder so etwas wie Stimmung herrschen sollte, dann schaltet vielleicht auch der eine oder andere öfter wieder den Fernseher ein. Denn Stimmung im Stadion gehört zum Fußball dazu – auch am Fernseher! Diese monotone Hallenbad-Atmosphäre bei Länderspielen will doch niemand hören! Noch weniger allerdings eine von euch beauftragte Blaskapelle, die aus dem herangezüchteten Event-Publikum vorgegaukelte Fußballstimmung herauskitzeln soll!
Für den Erhalt der Fankultur!
KURVENHELDEN
im November 2020
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